2

 

»Ich bin der Sheriff von Knott County«, sagte die schlanke Frau. Sie beugte sich über den Tresen, der den Empfangsbereich von den Büroräumen des Polizeireviers abtrennte. Sie hatte gerade mit der Beamtin dahinter geredet, als wir hereingekommen waren. Ich habe nie verstanden, wie Polizisten es aushalten, so eine schwere Ausrüstung mit sich herumzuschleppen. Auch der Gürtel dieser Frau wies die volle Ausstattung aus. Ich traue mich nie lange genug hinzustarren, bis ich alles identifiziert habe. Ich war mal kurz mit einem Hilfssheriff zusammen gewesen, damals hätte ich die Gelegenheit nutzen und mir seine Ausrüstung genauer ansehen sollen. Aber vermutlich war ich damals eher an einem anderen Ausrüstungsgegenstand interessiert.

Als sich die Frau, die hier das Sagen hatte, aufrichtete, sah ich, dass sie sehr groß war. Sie war Anfang fünfzig, ihr braunes Haar ergraute bereits, und ihre Augen und Mundwinkel wiesen zahlreiche Fältchen auf. Sie sah nicht so aus, als nähme sie mich ernst, andererseits hatte sie tuns persönlich gemailt.

»Ich bin Harper Connelly«, sagte ich. »Und das ist mein Bruder Tolliver Lang.«

Wir schienen auch nicht gerade dem Bild zu entsprechen, das sie sich von uns gemacht hatte. Sie musterte mich gründlich.

»Sie sehen gar nicht aus wie eine Verrückte«, sagte sie.

»Und Sie sehen auch nicht aus wie ein typischer Sheriff«, erwiderte ich.

Die Polizistin hinter dem Tresen hielt die Luft an. Oh, oh.

Tolliver stand direkt hinter mir, etwas nach links versetzt, und ich spürte von seiner Seite aus nichts als Gelassenheit. Er gab mir immer Rückendeckung.

»Kommen Sie mit in mein Büro, wir reden dort weiter«, sagte die hochgewachsene Frau. »Ich heiße Sandra Rockwell und bin hier seit einem Jahr Sheriff.« In North Carolina werden Sheriffs gewählt. Keine Ahnung, für wie lange, aber wenn sie erst seit einem Jahr Sheriff war, hatte sie bestimmt noch einige Zeit vor sich. Heute dürfte Sheriff Rockwell sich nicht mehr so sehr für Politik interessieren wie während des Wahljahrs.

Inzwischen befanden wir uns in ihrem Büro. Es war nicht sehr groß und mit Bildern des Gouverneurs, der Flagge des Bundesstaats, der amerikanischen Flagge und einigen gerahmten Urkunden geschmückt. Der einzige private Gegenstand auf Sheriff Rockwells Schreibtisch war einer dieser Fotowürfel. Er zeigte Schnappschüsse zweier Jungs. Beide hatten braune Haare wie ihre Mutter. Einer war bereits erwachsen und hatte selbst Frau und Kind. Sympathisch. Der andere hatte einen Jagdhund.

»Möchten Sie Kaffee?«, fragte sie, während sie sich auf den Drehstuhl hinter dem hässlichen Metallschreibtisch fallen ließ. Ich wechselte einen Blick mit Tolliver, und wir schüttelten beide den Kopf.

»Na gut.« Sie legte ihre Hände flach auf den Schreibtisch. »Ich habe über eine Beamtin in Memphis von Ihnen gehört, ihr Name ist Young. «

Ich lächelte.

»Sie erinnern sich also an sie. Sie arbeitet mit einem Kollegen namens Lacey zusammen.«

Ich nickte.

»Sie machte einen recht vernünftigen Eindruck auf mich und scheint keine Spinnerin zu sein. Und Ihre Aufklärungsrate und Ihr Ruf sind ausgezeichnet. Nur deshalb unterhalten wir uns hier, verstanden?«

»Ja, ich verstehe sehr gut.«

Sie wirkte ein wenig peinlich berührt. »Ich weiß, das klingt unhöflich, dabei möchte ich gar nicht unhöflich sein. Aber Sie werden sicherlich verstehen, dass ich so etwas nie in Erwägung ziehen würde, wenn Sie keinen so guten Ruf hätten. Ich gehöre nicht zu denen, die an Hellseher glauben, sich die Zukunft aus der Hand lesen lassen oder zu Séancen gehen, ja, ich lese nicht mal mein Horoskop.«

»Dafür habe ich vollstes Verständnis«, sagte ich. Vielleicht sogar in einem noch trockeneren Ton als sie.

Tolliver lächelte. »Wir verstehen, dass Sie Vorbehalte haben«, sagte er.

Dankbar erwiderte sie sein Lächeln. »Genau das ist es. Ich habe Vorbehalte.«

»Sie müssen also sehr verzweifelt sein«, meinte ich.

Sie warf mir keinen sehr freundlichen Blick zu. »Ja«, gab sie notgedrungen zu. »Ja, wir sind verzweifelt.«

»Ich werde mich nicht vor der Aufgabe drücken«, sagte ich forsch. »Ich möchte nur wissen, was auf mich zukommt.«

Meine Ehrlichkeit schien sie zu erleichtern. »Na, dann wollen wir die Karten mal auf den Tisch legen«, sagte sie. Sie holte tief Luft. »In den letzten fünf Jahren sind in diesem Bezirk immer wieder Jungen verschwunden. Bisher sind es sechs. Wenn ich ›Jungen‹ sage, meine ich Jungen im Alter zwischen vierzehn und achtzehn. Nun, Kinder in diesem Alter laufen gern mal von zu Hause weg, begehen Selbstmord oder haben einen tödlichen Autounfall. Wenn wir sie gefunden oder eine Nachricht von den Ausreißern bekommen hätten, könnten wir damit leben, falls man mit so etwas überhaupt leben kann.«

Wir nickten.

»Aber diese Jungen - nun, niemand kann sich vorstellen, dass sie auf die Idee kommen würden, wegzulaufen. Und wenn sie sich umgebracht hätten oder ihnen im Wald etwas zugestoßen wäre, müsste irgendein Jäger, Vogelbeobachter oder Wanderer längst ein, zwei Leichen gefunden haben.«

»Sie glauben also, dass sie irgendwo verscharrt wurden.«

»Ja, genau. Ich bin mir sicher, dass sie hier irgendwo sind.«

»Dann würde ich Ihnen jetzt gern ein paar Fragen stellen«, sagte ich. Tolliver zückte seinen Block und seinen Stift. Sheriff Rockwell wirkte überrascht, als hätte sie mit allem gerechnet, nur nicht damit, dass ich Fragen stelle.

»Dann schießen Sie los«, sagte Sandra Rockwell nach einer kurzen Pause.

»Gibt es Gewässer in Ihrem Bezirk?«

»Ja, den Grunyans Pond und den Pine Landing Lake. Und dann noch mehrere Flüsse.«

»Wurden sie bereits abgesucht?«

»Ja. Einige von uns tauchen, und wir haben so gründlich gesucht, wie wir konnten. Es kam auch nie etwas an die Oberfläche. Beide Gewässer werden stark genutzt, und alles, was hochgetrieben oder gesunken ist, hätte man längst gefunden, wenn es dort etwas zu finden gäbe. Ich bin mir sicher, dass der Pond in Ordnung ist. Trotzdem ist es möglich, dass an seiner tiefsten Stelle etwas liegt.«

Doch man sah Sheriff Rockwell an, dass sie dies für wenig wahrscheinlich hielt.

»Gibt es etwas, was die vermissten Jungs gemeinsam haben?«

»Außer, dass sie derselben Altersgruppe angehörten? Nicht viel, nur, dass sie verschwunden sind.«

»Alles Weiße?«

»Oh. Ja.«

»Und alle gingen auf dieselbe Schule?«

»Nein. Vier von ihnen waren auf der hiesigen Highschool, einer ging auf die Junior High und einer besuchte eine Privatschule, die Randolph Prep.«

»In den letzten fünf Jahren, sagten Sie? Verschwanden sie jeweils um dieselbe Jahreszeit?«

Sie sah in die Akte auf ihrem Schreibtisch und überflog ein paar Seiten. »Nein«, sagte sie. »Zwei im Herbst, drei im Frühling und einer im Sommer.«

Keiner im Winter, wo es schwerfällt, jemanden im Freien zu vergraben. So gesehen hatte sie wahrscheinlich recht mit ihrer Vermutung: Die Jungen waren irgendwo verscharrt.

»Sie glauben, dass eine Person alle auf dem Gewissen hat«, sagte ich. Das war nur so eine Vermutung, aber ich hatte richtig geraten.

»Ja, genau.«

Jetzt war ich an der Reihe, tief Luft zu holen. So einen Fall hatte ich noch nie gehabt. Ich habe noch nie versucht, so viele Menschen auf einmal zu finden. »Ich kenne mich nicht besonders mit Serienmördern aus«, sagte ich, und das gefürchtete Wort stand zwischen uns wie ein ungebetener Gast. »Aber wenn das, was ich gelesen oder im Fernsehen gesehen habe, stimmt, scheinen sie ihre Opfer in derselben Region, wenn nicht sogar am selben Ort zu vergraben. So wie der Green River Killer, der die meisten seiner Opfer im Fluss entsorgt hat.«

»Ja«, erwiderte sie. »Manche bevorzugen denselben Ort. Dann können sie ihn immer wieder aufsuchen. Um sich an den Erinnerungen zu weiden.«

Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht.

»Und wie können wir Ihnen helfen?«

»Erzählen Sie, wie Sie arbeiten. Wie finden Sie die Leichen?«

»Meine Schwester kann zwei Dinge«, sagte Tolliver und begann mit seinem Routinevortrag. »Sie findet Leichen und kann die jeweilige Todesursache bestimmen. Wenn wir nach einer Leiche suchen sollen, dauert das selbstverständlich länger, als wenn man uns zum örtlichen Friedhof bringt, auf ein Grab zeigt und wissen will, an was derjenige darin gestorben ist.«

Der Sheriff nickte. »Und es kostet auch mehr.«

»Ja«, sagte Tolliver. Es brachte nichts, darum herum zu reden oder es zu beschönigen, also ließ er es bleiben. Sheriff Rockwell verzog keine Miene und versuchte uns auch keine Schuldgefühle zu vermitteln, weil auch wir irgendwie unseren Lebensunterhalt verdienen mussten. Das unterschied sie von anderen Leuten, die uns behandelten, als zögen wir Profit aus dem Leid fremder Menschen. Aber was anderes konnte ich nun mal nicht, und ich war fest entschlossen, so viel Geld wie möglich damit zu machen, solange es noch ging. So schnell, wie mir diese Ga be geschenkt worden war, konnte sie mir auch wieder genommen werden. Vielleicht wäre ich sogar erleichtert darüber gewesen, aber dann hätte ich auch keine Arbeit mehr gehabt.

»Woher wissen Sie, wo Sie suchen müssen?«, fragte Sheriff Rockwell.

»Wir recherchieren gründlich. Was haben Sie herausgefunden, nachdem die Jungen verschwunden waren?«, fragte Tolliver. »Gibt es irgendwelche Spuren?«

Sheriff Rockwell war so schlau, eine Landkarte der Region hervorzuholen. Nachdem sie sie auf ihrem Schreibtisch ausgebreitet hatte, standen wir alle drei auf und starrten sie an. »Hier sind wir«, sagte sie, »hier liegt Doraville. Das ist die Bezirkshauptstadt. Wir sind ein armer, ländlicher Bezirk. Wie Sie sehen, befinden wir uns im Vorgebirge. Hier gibt es viele Hügel, aber auch steile Berge und dann noch ein, zwei Täler, mit ebenen Anbauflächen.«

Wir nickten. Doraville selbst erstreckte sich über verschiedene Ebenen.

»Drei der Jungs besaßen ein eigenes Auto«, sagte Sheriff Rockwell. »Hier oben haben wir Chester Caldwells alten Pick-up gefunden, auf dem Parkplatz am Anfang des Wanderwegs.«

»War er der Erste?«, fragte ich.

»Ja.« Ihre Züge verhärteten sich. »Ich war damals noch Hilfssheriff. Wir haben den Wanderweg stundenlang abgesucht. Er führt durch steiles Gelände, und wir haben nach Spuren eines Sturzes oder eines Angriffs durch ein wildes Tier gesucht. Doch wir haben nichts gefunden. Er ist nach dem Footballtraining verschwunden, Mitte September. Damals war Abe Madden noch Sheriff.« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die schlimmen Erinnerungen abschütteln. »Wir haben nie etwas gefunden. Er kam aus schwierigen Verhältnissen, die Mutter trinkt zu viel und ist geschieden. Sein Vater hat sich aus dem Staub gemacht und nie wieder etwas von sich hören lassen.«

Sie holte tief Luft. »Der Nächste, der verschwand, war Tyler Webb. Damals war er sechzehn. Er wurde vermisst, nachdem er mit Freunden an einem Sommernachmittag im Grunyans Pond schwimmen war. Sein Auto haben wir hier gefunden, auf diesem Autobahnrastplatz.« Sie zeigte auf eine Stelle, die in Luftlinie nicht sehr weit von Doraville entfernt war. »Tylers Sachen lagen noch im Auto: sein Führerschein, sein Handtuch, sein T-Shirt. Aber von ihm selbst fehlte jede Spur.«

»Keine anderen Fingerabdrücke?«

»Nein. Ein paar von Tyler und seinen Freunden, mehr nicht. Nichts auf dem Lenkrad und dem Türgriff. Beide wurden abgewischt.«

»Haben Sie da nicht Verdacht geschöpft?«

»Natürlich«, sagte sie. »Aber nicht Sheriff Madden.« Sie zuckte die Achseln. »Dass Chester abhauen wollte, ist gut vorstellbar. Aber dass er seinen Pick-up dalässt? Das finde ich eher unwahrscheinlich. Andererseits hatte er es nicht leicht zu Hause, seine Freundin hatte sich von ihm getrennt, und in der Schule hatte er auch Probleme. Vielleicht wollte er sich umbringen, nur seine Leiche haben wir nie gefunden. Wir haben weiß Gott danach gesucht. Abe meinte, irgendwann würde schon jemand auf seine sterblichen Überreste stoßen. Tyler hingegen war ein ganz anderer Typ. Er verstand sich prächtig mit seiner Familie, war ein guter Schüler und ein anständiger Junge. Kaum vorstellbar, dass er von zu Hause wegläuft, sich umbringt oder so was. Aber Abe wollte damals nichts davon wissen. Er hatte gerade von seinen Herzproblemen erfahren und wollte sich nicht unnötig aufregen.«

Eine kurze Pause entstand.

»Und dann?«, fragte ich.

»Dann kam Dylan Lassiter an die Reihe. Dylan besaß kein Auto. Er sagte seiner Großmutter, er ginge drei Straßen weiter zu einem Freund, aber er ist nie dort angekommen. Eine Baseballkappe, die ihm gehört haben könnte, wurde hier gefunden.« Sie zeigte auf eine Stelle auf der Karte. »Das ist der Shady-Grove-Friedhof«, sagte sie.

»Gut, immerhin eine Spur«, sagte ich.

»Vielleicht hatte sie auch der Wind dorthin geweht. Vielleicht war es auch gar nicht seine, obwohl die Haare von Dylan hätten sein können. Es war bloß eine ganz normale Baseballkappe. Schließlich schickten wir sie ins Labor, und die DNA stimmte mit der von Dylan überein. Aber das half uns auch nicht weiter. Das bedeutete nur, dass er diese Kappe dort, wo er jetzt war, nicht aufhatte.«

Das war eindeutig die Schilderung polizeilichen Versagens. Ich bin keine Polizistin und werde auch nie eine sein, aber meiner Meinung nach war uns Abe Madden eine Erklärung schuldig.

»Einen Monat später verschwand Hunter Fenwick«, sagte Rockwell. »Hunter war der Sohn eines Freundes von mir, und er ist auch der Grund, warum ich mich um den Sheriff-Posten bewarb. Ich habe Sheriff Madden immer respektiert - zumindest bis zu einem gewissen Grad -, aber ich wusste, dass er sich irrte, was die Jungen betraf. Hunter... nun, sein Auto stand auf demselben Parkplatz, auf dem auch Chester's Pick-up gefunden wurde. Am Anfang des Wanderwegs. Wir fanden auch Blutspuren - allerdings nicht so viele, dass er den Blutverlust nicht hätte überleben können. Und sein Geldbeutel wurde keinen Kilometer von der Stadt entfernt gefunden, in einem Straßengraben.« Sie zeigte auf eine kurvige Landstraße, die etwa dreißig Kilometer lang in nordwestlicher Richtung aus Doraville hinausführte, bevor sie sich erst nach Norden und dann nach Nordosten wand, hin zum nächsten Ort, oben in den Bergen.

»Wer war der Nächste?«, fragte Tolliver, weil Sheriff Rockwell sich in düsteren Erinnerungen zu verlieren begann.

»Der Jüngste, Aaron Robertson. Er ging auf die Junior High und war erst vierzehn, zu jung für den Führerschein. Er blieb nach dem Basketballtraining in der Schule, um noch ein paar Körbe zu werfen. Er ging stets zu Fuß nach Hause. Aber in der Nacht zuvor war die Zeit umgestellt worden, und es war bereits dunkel. Er kam nie zu Hause an. Auch sein Rucksack wurde nie gefunden. Er ist spurlos verschwunden.« Sie zog eine Plastikhülle aus einem Ablagekorb auf ihrem Schreibtisch. Wir sahen eine Reihe junger Gesichter. Unter jedem Gesicht stand das Datum, an dem der jeweilige Junge verschwunden war. Es war schlimm genug, sich das Ganze anhören zu müssen, aber die Gesichter zu betrachten, war noch schlimmer.

Wir schwiegen alle eine Weile. Dann sagte Tolliver: »Und der Letzte?«

»Der Letzte verschwand vor drei Monaten. Jeff McGraw. Wir haben Sie wegen seiner Großmutter engagiert. Twyla fand, wir kämen hier nicht weiter, womit sie auch recht hat.« Es fiel Sheriff Rockwell sicher nicht leicht, dies zuzugeben, aber sie sagte es trotzdem.

»Twyla Cotton spendete viel Geld und sammelte noch zusätzliches bei den Familien, zumindest bei denen, die es sich leisten können zu helfen. Außerdem bekam sie Geld von Leuten, die einfach nur wollten, dass das hier endlich aufhört. Leute, die überhaupt nicht mit den Vermissten verwandt sind.« Sandra Rockwell schüttelte den Kopf. »Es ist schier unglaublich, wie viel Zeit und Energie sie darauf verwendet hat. Aber Jeff ist ihr ältester Enkel...« Ihr Blick wanderte zu dem Fotowürfel auf ihrem Schreibtisch. Rockwell war selbst Großmutter. Dann betrachtete sie das letzte Foto in der Reihe der Gesichter: ein Junge mit Sommersprossen, rotbraunem Haar und einer Trainingsjacke, auf die der Name seiner Schule aufgedruckt war. Jeff McGraw war ein begeisterter Basket- und Footballer gewesen. Bestimmt war er der Held in Doraville gewesen, ich kenne doch meine Südstaatenstädtchen!

»Sie sprechen also im Namen dieser Leute, die Geld dafür gespendet haben, dass die Jungen gefunden werden«, sagte Tolliver, »wahrscheinlich, weil der Bezirk kein Geld dafür hat.«

»Ja«, sagte Sheriff Rockwell. »Wir können keine Steuergelder für Sie ausgeben. Die Sache muss in einem strikt privaten Rahmen bleiben. Aber ich wollte Sie nicht beauftragen, bevor ich Sie nicht unter die Lupe genommen habe. Ich stehe der ganzen Sache höchst zwiespältig gegenüber.«

Das waren ziemlich große Worte für einen Sheriff, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Ich habe noch nie erlebt, dass Polizisten zugaben, Zweifel an mir zu haben. Sie sind wütend auf mich, reagieren ablehnend, angewidert - aber Zweifel äußern? Das war mir neu.

»Dafür habe ich vollstes Verständnis«, sagte ich vorsichtig. »Ich weiß, dass Sie getan haben, was Sie konnten, und es Ihnen, äh, schwerfallen muss, jemanden wie mich zu engagieren. Aber ich schwöre, alles zu tun, was in meiner Macht steht, und dass ich keine Betrügerin bin.«

»Das will ich Ihnen auch nicht geraten haben«, sagte Sandra Rockwell. »Gleich im Anschluss habe ich ein Treffen mit Twyla Cotton für Sie arrangiert. Das erschien mir angemessen. Danach überlegen wir, wo Sie mit Ihrer Suche beginnen.«

»Gut«, sagte ich fürs Erste.

 

Twyla Cotton war eine sehr dicke Frau. Man liest immer wieder von dicken Menschen, die trotzdem sehr leichtfüßig sind - Twyla Cotton gehörte definitiv nicht dazu. Sie ging schwerfällig. Sie machte uns so schnell die Tür auf, dass sie bestimmt schon dahinter gewartet hatte. Schließlich hatten wir vorher angerufen, um ihr zu sagen, dass wir bereits unterwegs seien.

Sie trug Jeans und ein Sweatshirt, auf dem stand: »Number One Grandma«. Sie war ungeschminkt, und in ihrem kurz geschnittenen braunen Haar zeigten sich nur ein paar graue Strähnen. Ich schätzte sie auf Mitte fünfzig.

Nachdem wir uns die Hände geschüttelt hatten, führte sie uns durchs Haus. Sie passte nicht zur Einrichtung. Hier war ein Innenarchitekt am Werk gewesen, und das Ergebnis war sehr ansprechend - viele Apricot-, Creme- und Beigetöne im Salon, dunkle Blau- und Brauntöne im Wohnzimmer. Trotzdem wirkte das Ganze eher unpersönlich. Twylas Reich war die Küche, und dorthin führte sie uns auch. Überall Ziegelwände, Edelstahl und glänzende Oberflächen. Es war warm und gemütlich hier an diesem grauen, kalten Morgen. Es war der gemütlichste Raum im ganzen Haus.

»Ich war Archie Cottons Köchin«, sagte sie lächelnd, als könne sie Gedanken lesen.

Bis ich zehn war, habe ich eine ausgezeichnete Erziehung genossen, aber danach waren meine Eltern ziemlich schnell abgestürzt. Erst Glanz und Gloria und dann die Gosse, sozusagen. Twyla Cotton war den umgekehrten Weg gegangen.

»Und dann hat er Sie geheiratet«, sagte ich.

»Ja, wir haben geheiratet. Setzen Sie sich, mein Lieber«, sagte sie zu Tolliver und wies mir einen Stuhl zu. Es gab auch noch ein Esszimmer, aber dieser auf Hochglanz polierte runde Tisch stand in einem Erker in der Küche. Die Stühle waren breit, bequem und auf Rollen. Eine Zeitung und ein paar Zeitschriften lagen herum sowie ein kleiner Stapel mit Rechnungen, praktischerweise direkt neben dem bequemsten Stuhl. Tolliver und ich wussten sofort, dass dieser für sie reserviert war. »Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen? Ein Stück Kuchen?«, fragte unsere Gastgeberin.

»Ich hätte gern etwas Kaffee, wenn er schon fertig ist«, sagte Tolliver.

»Ich auch, bitte«, schloss ich mich an. Ich ließ mich auf einen der Stühle fallen und rollte ihn an den Tisch.

Nacheinander bekamen wir Becher mit Kaffee, Löffel, Servietten und Sahne und Zucker in Reichweite hingestellt. Der Kaffee war ausgezeichnet, und der Vormittag hellte sich etwas auf, wenn auch nur ein bisschen.

»Archies Kinder waren schon erwachsen«, sagte Twyler. »Sie kamen nicht mehr so oft zu Besuch, nachdem seine Frau gestorben war. Er fühlte sich einsam, und ich hatte bereits Jahre für ihn gearbeitet. Es hat sich einfach so ergeben.«

»Und die Kinder, haben sie es ihm übel genommen?«, fragte Tolliver.

»Er hat ihnen Geld gegeben, sie beruhigt«, sagte Twyla. »Er hat ihnen das Testament erklärt, wer was bekommt, in Anwesenheit von zwei Notaren. Er hat sie dazu gebracht, zu unterschreiben, dass sie das Testament nicht anfechten werden, für den Fall, dass ich ihn überlebte. Und so bin ich zu diesem Haus, zu einer schönen Stange Geld und einem Haufen Aktien gekommen. Archie Junior und Bitsy haben ihren gerechten Anteil erhalten. Sie lieben mich nicht gerade, aber sie hassen mich auch nicht.«

»Weshalb haben Sie uns engagiert, Mrs Cotton?«

»Ich habe eine Freundin, der Sie vor ein paar Jahren geholfen haben. Linda Barnard aus Kentucky. Sie wollte wissen, was mit ihrer Enkelin passiert war, die man ein, zwei Kilometer von ihrem Haus entfernt gefunden hatte, ohne Spuren von Gewaltanwendung.

»Ich erinnere mich noch daran.«

»Also habe ich mir überlegt, Sie zu engagieren, und Sandra hat Sie ausfindig gemacht. Sie hat mit einer Polizistin in Memphis gesprochen.«

»Jeff, Ihr Enkel. Ist das der Sohn Ihres Sohnes? Sechzehn Jahre alt?«, fragte Tolliver und versuchte das Gespräch auf unser eigentliches Anliegen zu bringen. Obwohl fast alle, nach denen wir suchen, tot sind, haben Tolliver und ich gelernt, von den Vermissten nur im Präsens zu sprechen. Das klingt einfach respektvoller und optimistischer.

»Er war sechzehn, das älteste Kind meines Sohnes Parker.« Sie scheute sich nicht, die Vergangenheitsform zu verwenden. Sie sah die Frage in unseren Gesichtern.

»Ich weiß, dass er tot ist«, sagte Twyla, das runde Gesicht ganz starr vor Trauer. »Er würde niemals weglaufen, wie die Polizei behauptet hat. Er würde nie so lange wegbleiben, ohne sich zu melden.«

»Er ist jetzt seit drei Monaten verschwunden?«, fragte ich. Wir wussten bereits genug über Jeff McGraw, aber ich hätte es unhöflich gefunden, nicht zu fragen.

»Seit dem zwanzigsten Oktober.«

»Und niemand hat etwas von ihm gehört?« Ich kannte die Antwort auf meine Frage, trotzdem musste ich sie stellen.

»Nein, und er hatte keinen Grund wegzulaufen. Er spielte in der College-Footballmannschaft, hatte eine Freundin, er und seine Eltern haben sich gut verstanden. Parker - Parker McGraw war mein Nachname, bevor ich Archie heiratete - Parker hat den Jungen über alles geliebt. Er und Bethalynn haben noch Carson, er ist jetzt zwölf. Aber ein Kind kann man nicht ersetzen, und schon gar nicht das Erstgeborene. Sie sind alle vollkommen am Boden zerstört.«

»Sie werden sicherlich verstehen«, hob ich vorsichtig an, um gleich darauf noch einmal stumm zu überlegen, wie ich die folgenden Worte am besten formulieren sollte. »Sie werden sicherlich verstehen, dass ich irgendeinen Anhaltspunkt brauche, wo ich mit meiner Suche beginnen soll. Denn sonst kann ich ewig in dieser Stadt herumirren, ohne etwas ausfindig zu machen. Sheriff Rockwell meinte, sie hätte da bereits eine Idee.« Amerika ist riesig. Wie riesig, merkt man erst, wenn man etwas sucht, das so groß ist wie eine Leiche.

»Erzählen Sie mir, wie Sie arbeiten«, sagte sie.

Es war toll, jemanden kennenzulernen, der so sachlich blieb.

»Wenn Sie ein Gebiet für wahrscheinlicher halten als ein anderes, dann beginne ich dort mit dem Erkunden«, sagte ich. »Das kann dauern, das kann lange dauern. Vielleicht bin ich auch nicht erfolgreich.«

Sie fegte meinen Einwand beiseite. »Wie werden Sie wissen, dass er es ist?«

»Oh, das weiß ich einfach. Außerdem habe ich sein Foto gesehen. Das Problem ist nur, dass überall Tote herumliegen. Ich muss mich da erst durchwühlen.«

Sie wirkte erstaunt. Nach kurzem Nachdenken nickte sie. Wieder eine Reaktion, die ich nicht gewohnt war.

»Wenn er sich in einem der Gebiete befindet, auf die Sie mich hinweisen, werde ich ihn finden. Wenn nicht, und da möchte ich Ihnen gar nichts vormachen, kann es gut sein, dass ich Jeff niemals ausfindig mache. Welche Informationen haben Sie, die meine Suche einschränken könnten?«

»Sein Handy. Es wurde auf der Madison Road gefunden.

Ich kann Ihnen die genaue Stelle zeigen.« Sie zeigte mir Jeffs Foto, allerdings ein anderes als das auf dem Polizeirevier. Es war eine professionelle Aufnahme von Jeff und seiner Familie, seine Großmutter war auch mit auf dem Bild. Früher brach es mir das Herz, die Menschen auf Fotos noch am Leben zu sehen, im Kreise ihrer Lieben. Jetzt konzentriere ich mich nur noch auf ihre persönlichen Merkmale und hoffe sie wiederzuerkennen, auch wenn nur noch ein paar verstreute Gebeine von ihnen übrig sind. Denn damit verdiene ich nun mal unseren Lebensunterhalt.

Aber dieser Auftrag hier in Doraville war irgendwie anders. Zeit spielt keine große Rolle, wenn man es mit Toten zu tun hat, sie gehen nirgendwo mehr hin. Es sind die Lebenden, die es eilig haben. Aber in diesem Fall war die Zeit ein wichtiger Faktor. Wenn Sheriff Rockwell recht hatte, hatten wir es mit einem Serienmörder zu tun, der sich jeden Moment ein weiteres Opfer holen konnte. Bisher hatte er noch nie im Winter zugeschlagen, aber das konnte sich ändern. Warum sollte er den Schneematsch nicht ausnutzen und noch ein richtiges Gemetzel anrichten, bevor der Boden fror?

Wenn wir die vermissten Jungen finden würden, hoffte ich doch sehr, dass irgendetwas daran, wie, wo oder womit sie verscharrt waren, Hinweise zur Entlarvung des Täters gäbe. Ich weiß sehr wohl, dass wir eines Tages alle sterben müssen. Aber ich hasse die Mörder von Jugendlichen, weil sie ein Leben zerstören, das noch so viel Potenzial hat. Ich weiß auch, dass das nicht logisch ist. Selbst ein fünfundsiebzigjähriger hoffnungsloser Säufer kann einer Frau noch einen Schubs versetzen, um sie vor einem heranrasenden Auto zu retten, und die Welt im Kleinen entscheidend verändern. Aber der Tod von Kindern ist immer etwas ganz besonders Entsetzliches.

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